Traurige Gedanken dank eines Traumes:
vor gut einem Jahr in Wirklichkeit passiert:
Ein großer Raum, der einer Halle gleicht und nur vom Glanz einzelner Kerzen erhellt wird, aufgereiht in einem scharzem einsam stehenden Kerzenständer. Davor eine Gebetbank,die in einem dunklem Farbton gehalten ist.
Absolute Stille beherrscht den Raum, nur ein leichter Windhauch zieht durch die Abendluft. Es ist schon spät und dennoch ist jemand in diesem Raum, in einer Ecke, die wenig erleuchtet schon fast finster wirkt.
Leise fließen Tränen an ihrem Gesicht entlang und betrüben die sonst so klaren blauen Augen. Sich der Kälte der Halle wohl bewusst zieht sie es vor, in der einsamen Ecke zu verweilen und den leuchtenden Kerzen weiter hinten zuzusehen.
Wurden diese kleinen hellen Lichter doch entzündet, um Trost zu spenden, so erfüllten sie nun ihren Zweck. Mit dem langen Ärmel der fast über ihre Hände reicht, wischt sie sich die einzelnen Tränen weg und schaut in den Raum. Nur sie und die kleinen Kerzen, sonst niemand ist in der Kirche.
Doch so wollte sie es ja. Sie hat diesen religiösen Ort für ihre große Trauer gewählt. Ja sie fühlt noch immer eine große Traurigkeit. Diese will sie noch nicht verlassen, es ist, als würde es jedes Jahr aufs neue passieren. Jedes Jahr zur selben Zeit. Jedes Jahr, dann, wenn ein halbes fast vorüber ist und der Rest des Jahres beginnt sich in quälende Länge zu ziehen.
Sie fühlt wie sich die Traurigkeit wieder um ihr Herz zu schließen scheint. Je mehr sie weint, desto schwerer scheint es damit aufzuhören. Ihre durcheinander geratenen Gedanken erleben alles von vorn, so als wenn es gestern war, oder sogar erst vor ein paar Stunden.
Sie erinnert sich noch sehr stark an dem Tag, an dem sie weinte. Den Tag, einen Tag, an dem sie mit der Schulklasse noch auf der Besinnungsfahrt war. An jenem Tag, an dem die Tränen flossen.Sie weinte aus einem Grund, den sie sich nicht erklären konnte. Als wenn etwas von ihr gehen würde. Etwas, das ihr wichtiger war als alles andere. Es war, als wenn ein Band zerreißen würde, ein unsagbarer riesiger Schmerz.
Weiter erinnert sie sich an den nächsten Tag, die Heimfahrt. Ja, Heimfahrt wurde es genannt. Sie nannte es das Ende der Freiheit. So kam es ihr jedes mal vor, wenn sie nach Hause fuhr. Sie wollte sich nichts anmerken lassen, wurde freundlich abgeholt, doch irgendetwas fehlte.
Ihr Onkel war anders als sonst, er war schweigsam. Ja, er war sehr schweigsam. Bis er mit einem mal sagte, dass er fort sei. Fortgelaufen. Einfach so. Man suche schon nach ihm! Seit gestern ist er fort. Fort für immer. Seit gestern? Gestern? Da war doch was? Ja gestern war der Tag, an dem sie weinte! Ja, die Erinnerung ist hellwach.
Die Mutter weinte, sie weinte um sich, weil sie ohne ihn nicht sein wollte. Er gehörte ihr. Er durfte nicht fortlaufen. Ich gab ihr Trost. Sie nahm die Stütze an wie einen Rettungsanker. Die Mutter brauchte sie jetzt.
Es war ein Freitag Abend, an dem sie Heim kehrte. Ein Freitag Abend, an dem sie sich in ihr Zimmer verkroch und dort im Dunkeln ein Lied sang. Ein Lied, das die Sehnsucht in ihr zeigte. Der Text war nicht ganz passend, doch der Titel tat es umso mehr. „Wish you were here!” was sollte sie sich auch sonst wünschen? Das Lied kam nur schmerzhaft über ihre Lippen, so als wenn sie wüsste, dass er für länger fort sein würde. Für viel, viel länger. Für immer. Endgültig.
Die Nacht hatte sie damals unruhig verbracht und am nächsten Morgen gefragt, was los sei. Den Alltag könne sie so nicht wieder aufnehmen, er fehlte immer noch.
Samstag Morgen und die Polizei stand vor der Tür. Die wenigen Worte des Polizisten, die sie mitbekommen konnte, waren genug. Mehr als genug. Es war wie eine Bestätigung dessen, was sie schon am Donnerstag gespürt hatte. Der große Schmerz. Die Verbundenheit. Das Ewige fehlen.
Der Stiefvater fuhr in die Klinik, doch viel konnte er dort nicht machen, nur eine Bestätigung, dass unsere Vermutungen stimmten. Er war schon öfters mal fortgelaufen, aber immer wieder war er heimgekehrt. Ob freiwillig oder nicht sei dabei dahingestellt. Aber er kam sonst immer zurück. Diesmal nicht. Diesmal hatten wir es gespürt, es war ein endgültiges Fort sein. Es war ein für immer!
Den größten Schmerz aber bereitete mir nicht das für immer, sondern dass es ein für immer ohne Abschied war. Es blieben Fragen wie: „Wieso? Weshalb? Warum?“. Doch die Antworten darauf konnte sie sich auch denken. Es war einfach alles zu viel, das ganze Leben so wie es war. Zu viel für einen Menschen wie er es war. Als Haushaltshilfe der Mutter, als seelische Stütze der Mutter, als Wutablass des Stiefvaters, als Beschützer der Schwestern. Ja es war ihm alles viel zu viel.
Die Erinnerung führte sie weiter. Nacht für Nacht. Tag für Tag. Es ist als verfolge es sie. Und sie wird es nicht los. Es ist schwer den Schmerz loszuwerden, viel schwerer als sie dachte. Schwerer als irgendjemand aus ihrem Umfeld dachte. Sie dachten sie sei stark. Doch das sie schmerzen hat, sah man ihr nicht an. Sie ließ es nicht zu.
Dabei ist es doch schon so lange her. Schon so lange, dass sie es gerade eben noch an den Fingern abzählen kann. Ein letztes mal noch. Fast schon 13 Jahre. Für manche eine Ewigkeit, doch für sie ein Tag? Eine Stunde? Fast so als wäre es gestern gewesen.
Doch plötzlich wird die Stille durchbrochen, jemand betritt den dunklen Raum, die Kirche. Dieser Jemand schaut sich um. Sie zieht ihre Jacke zusammen, ja die Person hat Recht, es ist Zeit, wieder zu den anderen zurück zu kehren.
Zu den anderen, die alle auch diesen teil der Erinnerungen kennen. Zum Teil waren sie dabei, zum Teil trauern sie auch, jeder auf seine Art und Weise. Doch anscheinend niemand so sehr wie sie. Die meisten verstehen es auch nicht, es ist schwer für alle sie zu verstehen. So schlimm kann es doch nicht sein, oder? Es ist doch schon so lange her? So furchtbar lange. Die Zeit heilt doch alle Wunden. Tut sie das? Kann Zeit Wunden heilen? Kann die Zeit ein Bild das immer noch vor Augen schwebt vertreiben?
Irgendwann einmal sagte irgend Jemand das die Zeit alle Wunden heilen würde. Aber an die Narben die zurück bleiben hat dieser Jemand nicht gedacht. Es kommt auf jeden einzelnen Menschen an. Wie jeder einzelne mit seinen Narben umgeht. Sie trägt ihre Narben mit Fassung. Sie gönnt sich aber hin und wieder auch einmal eine Auszeit. Meistens dann, wenn kein anderer es weiß. Sie ist dann mit sich und dieser einen Narbe alleine. Aber hin und wieder braucht sie das. Ihre Augen tränen und sie lässt diese kleinen Tränen kullern. Aber eines hat sie nicht vergessen und wird es auch nicht:
Das Leben geht weiter und sie sieht am Horizont die klaren leuchtenden Farben der Sterne und den hell am Sternenhimmel leuchtenden Mond. Ein schöner Tag ist zu Ende. Ein Tag, an dem sie wieder einmal in Erinnerungen versunken war. Ein Tag aber, der sie wieder ein Schritt weiter gebracht hat. Schritt für Schritt.
Ja, das Leben geht weiter und sie zieht sich aus dem Trauerloch heraus in die fröhlich Gute-Laune-Stimmung, die sie immer dann aufsetzt, wenn sie zu den anderen geht. Ja, Lachen ist gesund! Doch manches mal sollte man der Trauer einen Auslauf gewähren. Damit sie sich nicht staut und man selbst daran zerbricht.
Einmal ich selbst sein, sprach er zu mir.
Bevor ich aufbrauch, ihn nie wieder zu sehen...
(in Erinnerung an meinen Bruder)
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